Advent 2021

Liebe Leserin, liebe Leser,

wir schreiben das Jahr 1893: Johann Hinrich Wichern betrat den dunklen Stall, der neben seinem Waisenhaus stand. Sechs Jahre zuvor hatte er das Rauhe Haus, wie sein Waisenhaus genannt wurde, gegründet.

Licht bekam er vielleicht von einer kleinen Kerze. In einer Ecke des Schuppens entdeckte er ein altes, verstaubtes Wagenrad. Ihm ging im wahrsten Sinne des Wortes ein Licht auf: Denn die Kinder, um die er sich liebevoll kümmert, fragten immer wieder:  „Wie lange ist es noch bis Weihnachten?“

Das alte Wagenrad sollte zum ersten „Adventskalender“ der Welt werden: Wichern gilt als Erfinder des Adventskranzes. Für die 24 Tage bis Weihnachten setze er Kerzen auf das Rad: Vier große, rote, für die Adventssonntage. Die übrigen Tage bekamen kleinere, weiße Kerzen. Wichern und die Kinder hängten den Prototypen des Adventskranzes in ihre Stube. Jeden Tag durfte ein Kind eine weitere Kerze anzünden. So wurde die Wartezeit bis Weihnachten verkürzt. Bei Kerzenschein saß Wichern mit den Kindern zusammen – denn elektrisches Licht gab es ja noch nicht. Sie sangen Lieder, lauschten Geschichten und tranken heißen Tee. Wichern schenkte den Kindern so das wertvollste, was er hatte: Seine Zeit und seine Nächstenliebe. Denn dass ein Erwachsener den Waisenkindern mit Aufmerksamkeit begegnete, war etwas Neues.

Nebenbei lernten die Kinder so auch das Zählen, da ja jeden Tag eine weitere Kerze hinzukam. Und auch aus ganz pragmatischen Gründen war der Adventskranz eine gute Idee: So wurde es im Saal des Rauhen Hauses immer heller; die Vorfreude stieg von Tag zu Tag, bis es endlich Weihnachten wurde. Das Licht erfüllt nicht nur den Raum, nein, es erfüllte auch die Herzen und das ganze Leben der Kinder des Rauhen Hauses.

Und so hat es Wichern geschafft, eine adventliche Tradition zu begründen, die aus unserer heutigen Welt nicht mehr wegzudenken ist.

Eine gesegnete Advents- und Weihnachtszeit wünscht

Euer und Ihr Pastor Moritz Keppel